Erwachsene Analphabeten - wer kennt welche?

Als ein Bekannter erzählte, dass er einen Arbeitskollegen hat, der nicht lesen und schreiben kann, wie ich hier schon berichtete, Statistische Zahlen der Analphabeten in Deutschland habe ich mich doch gefragt, wie so was nur sein kann, wo doch hier in Deutschland eigentlich auf die Schulbildung so geachtet wird. Kennt ihr einen erwachsenen Menschen, der Analphabet ist? Warum ist dieser Mensch Analphabet und wie hat dieser Mensch es geschafft durch die Schule zu kommen und auch vielleicht sogar noch einen Beruf zu erlernen?

Es begegnen mir in der Beratung gelegentlich Menschen die weder lesen noch schreiben können. Briefe kommen regelmäßig weder von den Gesellschaften noch von mir dort an. Schriftliche Vereinbarungen sind nicht möglich.
Komischerweise aber sind manche dieser Leute aber sogar sehr erfolgreich in ihrem Job, der zugegebenermaßen nicht unbedingt ein erlernter sein muss.

Ich kenne auch eine solche Person, die weder lesen noch schreiben kann, aber dennoch einer Arbeitstätigkeit nachgeht. Gut, dieser Job ist nicht das Gelbe vom Ei aber immerhin hat man ihn eine Chance und eine Gelegenheit ermöglicht um doch einer Arbeit nachzugehen. Seine Aufgabe besteht einfach darin bestimmte Dinge von A nach B zu bringen. Es gibt sicher bessere Jobs aber das ist immer noch viel besser als wenn man gar nichts macht. Es gibt auch ab und zu mal kleine Probleme, wenn er nicht mehr genau weiß was er jetzt wohin bringen muss, aber das löst sich auch relativ schnell, da ja in der Regel überall Zettel dran sind und jemand greifbar ist, der lesen kann.

Ich stelle es mir schrecklich vor, Analphabet zu sein. Solch ein Mensch möchte das ja auch nicht publik machen, dass er Analphabet ist. So muss er immer auf der Hut sein vor Entdeckung. Selbst wenn er arbeitet und seine Kollegen wissen es nicht. Sie müssen sich immer verstecken, damit man ihre Schwäche nicht erkennt.

Ich kenne keinen Analphabeten oder bisher habe ich noch keine Kenntnis davon erhalten. Wenn sie die Schreibschrift nicht lesen können, ist das tägliche Leben mit Verbotsschildern, Straßenschildern und Bedienungsanleitungen eine einzige Tortur. Sie können keine Zeitung oder ein Buch lesen, keinen Einkaufszettel schreiben und wenn sie Kinder haben, ist es ihnen nicht möglich, denen bei der Schularbeit zu helfen. Sie selbst haben eine nicht ausreichende Schulbildung genossen. Meist wagen sie es nicht, das versäumte nachzuholen, weil die Angst sie im Griff hat, ausgelacht zu werden. Fast immer sind es die sozial Schwächeren.

Ich kenne eigentlich keinen Erwachsenen Menschen der Analphabet ist. Ich kenne auch keinen, also mir fällt momentan niemand ein, der Analphabet ist. Ich kenne jedoch einen Legastheniker und bei ihm sehe ich schon, dass er es deutlich schwieriger hat.

Ich stelle mir das Leben als Analphabet auch sehr schwer vor, aber man muss sagen, dass die Menschen meistens ja selber daran Schuld sind. Wenn man früher einfach nicht in der Schule aufgepasst hat und deswegen diese Dinge nicht gelernt hat, dann muss man mit den Konsequenzen später lernen.

Ich kenne ebenfalls Analphabeten. Allerdings mit anderem Hintergrund. Ich habe vor meiner Karenzzeit in einem Bildungsinstitut unter anderem auch Deutschkurse für Ausländer gehalten. Da hatte ich immer wieder Ausländer, die Analphabeten waren. Ich möchte es nicht verallgemeinern, aber oft kamen sie aus den hintersten Provinzen der Türkei. Sie genossen eben scheinbar kaum bis keine Schulbildung und so konnten sie auch kaum bis gar nicht Lesen und Schreiben. Betroffen waren in meinen Kursen vor allem eben türkische Frauen. Ich muss dazu sagen, dass in den Kursen aber auch überdurchschnittlich viele Türken waren. In anderen Ländern wird das wohl genauso sein.

Aber da es ja auch genügend Kurse für Analphabeten gibt, wo es ja auch genügend einheimische Teilnehmer gibt, ist die Statistik sicher nicht falsch. Ich habe mich auch schon oft gefragt, wie man da durch die Schulzeit kommt, oder wie man da eigentlich nicht auffallen kann. Ich bin auch Legasthenietrainerin, wo ich durchaus auch schon Erwachsene hatte, die sich sehr schwer mit dem Lesen und Schreiben getan haben, aber immerhin konnten sie zumindest die Grundkenntnisse. Richtige Analphabeten waren sie nicht, aber sie hatten schon massive Probleme. Durch die Schule haben sie es dennoch geschafft, weil Analphabeten nicht automatisch unintelligent sind. Soweit sie zumindest Grundkenntnisse von Lesen und Schreiben beherrschen, kann man sich also scheinbar irgendwie durchwurschteln, wie man so schön sagt. Wie es jedoch richtige Analphabeten schaffen, ist mir weiterhin ein Rätsel.

Ich frage mich, ob laut Statistik mit "Analphabeten" Einheimische gemeint sind, die theoretisch die Bildung hier hätten genießen können oder eben um Migranten, die möglicherweise ein fremdes Alphabet beherrschen, aber Deutsch weder lesen noch schreiben können. Unter den Migranten kenne ich einige "Deutsch-Analphabeten", aber das heißt ja nicht, dass man komplett nicht lesen oder schreiben kann.

Deutsche Analphabeten, die hier in der Schule waren, kenne ich nicht. Eine ehemalige Nachbarin kam aus dem arabischen Raum und hat sich trotz Deutschkurs schwer getan, lesen zu lernen. Aber solche Leute meinst du wahrscheinlich nicht.

Ich finde es traurig, dass unser Schulsystem anscheinend immer noch Leute ins Leben entlässt, die weder lesen noch schreiben können. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie so etwas passieren kann. Ich hatte einmal eine Nachhilfeschülerin einer Förderschule mit sehr geringem IQ, aber selbst die hat lesen und schreiben gelernt, hat sogar den Hauptschulabschluss geschafft. Aber immer noch scheinen einige durchzurutschen.

Bei der Kriegsgeneration kam das öfters vor, weil manche Kinder die Schule nur ein paar Jahre besuchen konnten und bei den großen Klassen keine besondere Förderung möglich war. Besonders Kinder mit Legasthenie hatten da schlechte Karten. Aber heutzutage sollte so etwas nicht passieren. Denn es ist doch eine sehr starke Einschränkung, nicht lesen zu können.

Allein rund 7,5 Millionen Deutsche können nicht lesen und schreiben. Die meisten sind funktionale Analphabeten, die einzelne Worte entziffern, aber keine Sätze oder gar Texte lesen können. Davon sind 1,5 Millionen junge Menschen nach der Schule aber unter 30.

Ich kann mir schon vorstellen, dass viele von uns Analphabeten kennen, wenn vielleicht auch nur flüchtig. Schließlich ist ein derartiges Defizit nichts, womit man normalerweise hausieren geht, weil es doch mit einem Stigma verbunden ist. Wenn man sich einzelne Worte zusammenreimen kann, ist man zumindest nicht völlig aufgeschmissen, und für gewöhnlich sitzt man ja nicht bei jedem flüchtigen Bekannten daneben, wenn derjenige einen Vertrag abschließen oder einen Fragebogen ausfüllen soll. Oder sonst irgend etwas, bei dem man zwingend gut lesen und schreiben können muss.

Ich selber könnte mir vorstellen, dass bei mir in der Arbeit jemand nicht sonderlich gut lesen und schreiben kann. Aber ich weiß nicht, ob Nicht-Deutsche mit wenig Schulbildung aufgrund von Krieg, Armut und Vertreibung auch in die Statistik eingehen. Und natürlich kann ich mich täuschen. Aber ich werde den Herrn jetzt nicht fragen, wie weit seine Schreib- und Lesefähigkeit im Alltag denn reicht.