Kann man sich und anderen Süchte einreden?

vom 28.09.2011, 21:54 Uhr

Viele meinen ja, dass man von allem abhängig werden kann, was man übermäßig verzehrt oder was man übermäßig benutzt. So ist hier ein Thread wegen Internetsucht, wegen Colasucht und wegen Sachen, die in meinen Augen auch keine Sucht sind. So redet eine Bekannte ihrer Tochter ein, dass sie kaugummisüchtig ist und der Sohn einer Bekannten soll colasüchtig sein und wieder andere sind süchtig danach Kaffee zu trinken. Im Fernsehen habe ich neulich einen Bericht gelesen von einer Frau, die Wassersüchtig ist und immer eine Flasche Wasser dabei hat und schluckweise ständig Wasser trinkt.

Sind manche vermeintliche Süchte nicht einfach dumme Angewohnheiten? Kann man sich und anderen auch Süchte einreden? Es ist noch gar nicht lange her, da waren alle empört, wenn man davon gesprochen und geschrieben hat, dass jemand computerspielsüchtig ist, weil man angeblich ja von diesen Spielen nicht süchtig werden kann und kaum ist das ausdiskutiert, wird von Internetsucht gesprochen. Ich bin der Meinung, dass man aus allen Süchte macht, die eben mehr konsumiert werden als die "Norm" entspricht. Was denkt ihr? Wird heute viel zu schnell aus einer Angewohnheit eine Sucht gemacht?

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» Diamante » Beiträge: 41749 » Talkpoints: -4,74 » Auszeichnung für 41000 Beiträge



Zur Beantwortung deiner Frage muss ich Sucht erst einmal definieren. Ich folge da am ehesten der WHO (World Health Organisation), die Sucht als unüberwindbares Verlangen nach einer Substanz oder einem Verhalten definiert, für dessen Erreichung man auch körperliche, seelische oder eben auch soziale Nachteile in Kauf nimmt. Dies ist meines Erachtens auch der wesentliche Punkt: Ist das Verlangen unüberwindbar und hat derjenige echte maßgebliche Nachteile dadurch?

Bei der Frau mit der Sucht danach, Wasser zu trinken, könnte dies durchaus der Fall sein, weil sie eingeschränkt ist. Zum einen ist es nicht überall angebracht, ständig zu trinken, zum anderen scheint sie ohne diesen ständigen Schluck Wasser nicht mehr zu funktionieren im Sinne von normal leben zu können. Da kann ich nach der obigen Definition schon klare Einschränkungen erkennen.

Computer sind ja im Vergleich zur Menschheit eine zeitlich sehr neue Erscheinung und wie bei jeder Strömung natürlich erst einmal über einen längeren Zeitraum für viele Menschen sehr interessant. Doch hier muss fein differenziert werden: Nutze ich den Computer als Medium für beispielsweise Bildung, für ein weiterführendes Hobby, pflege ich echte zwischenmenschliche Kontakte über ihn? Dann ist er sozusagen ein Arbeitsgerät, ein simples Hilfsmittel, wie ein Telefon oder dergleichen. Kritisch wird es erst dann, wenn soziale Nachteile auftreten, sei es, dass der Bertreffende kaum noch reale Kontakte hat und sich von seiner Umgebung wirklich zurückzieht, sei es anderereits, dass er unruhig und unglücklich wird, wenn er sagen wir mal nicht dauernd zu Facebook kann oder nicht andauernd seine Onlinespiele spielen kann. Hier kann man durchaus von einer Sucht sprechen.

Sucht ist eben ein weitgefasster Begriff, und ich stimme zu, dass mit diesem Begriff leider momentan sehr inflationär umgegangen wird. Das Marketing hat diesen Begriff für sich entdeckt, und er hat die Phrase "revolutionär" abgelöst. Früher war jede Neuerung, jedes Haarshampoo und jedes PC-Spiel die absolute Revolution, heute wird da alles eben gerne als "süchtig machend" verkauft, als sei das ein erstrebenswerter Zustand.

Dies ist aber eine normale sprachliche Entwicklung, die sich auch gut am Beispiel der Depression und an deprimiert sein darstellen läßt. Wo man in den 80'er Jahren noch deprimiert war, kam 10 Jahre später die Depression in Mode, so dass jeder, der vor 10 Jahren einen schlechten Tag hatte und deshalb deprimiert war, nun auf einmal von Depression und depressiven Stimmungen sprach. Mehr Depressive gab es deshalb nicht, so wie es auch heute nicht unbedingt mehr süchtige Menschen gibt.

Nicht jeder Dicke ist esssüchtig, nicht jeder, der gern am Computer sitzt, ist Internet- oder PC-Spiel-süchtig. Beide können es aber sein, wenn die obige Definition wirklich auf ihr Verhalten und ihre Empfindungen passt. Die restlichen angeblich Süchtigen mögen einfach eine Zeitlang etwas sehr gerne, wie etwa das Kaugummi aus deinem Beispiel. Die Anzahl von echten Nachteilen irgendeiner Art durch den Verzehr von viel Kaugummi dürfte mit ziemlicher Sicherheit gegen Null streben. Anders sähe es aus, wenn es sich um Süßigkeiten handelt, die die Zähne massiv schädigt und die trotzdem weiterhin vom Betroffenen in großer Menge konsumiert würden. Dann ist es eine Sucht. Kaugummi kauen ist eher eine Marotte.

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» Karen 1 » Beiträge: 1344 » Talkpoints: 0,40 » Auszeichnung für 1000 Beiträge


Karen 1 hat geschrieben:Zur Beantwortung deiner Frage muss ich Sucht erst einmal definieren. Ich folge da am ehesten der WHO (World Health Organisation), die Sucht als unüberwindbares Verlangen nach einer Substanz oder einem Verhalten definiert, für dessen Erreichung man auch körperliche, seelische oder eben auch soziale Nachteile in Kauf nimmt. Dies ist meines Erachtens auch der wesentliche Punkt: Ist das Verlangen unüberwindbar und hat derjenige echte maßgebliche Nachteile dadurch?


Mit den WHO-Definitionen gehe ich persönlich etwas kritischer um, weshalb ich für mich die Sucht anders definieren würde. Denn bzgl. Gesundheit beispielsweise gibt die WHO ebenfalls eine Definition ab, dessen Erreichung in der Realität allerdings gegen 0,000% tendiert. Insofern darf man so was ruhig in Frage stellen, inwiefern sie insgesamt gültig sind. Was ich für wesentlich aussagekräftiger halte, sind die Kriterien, die im ICD-10 aufgelistet sind unter dem sogenannten Abhängigkeitssyndrom.

Darauf beruhend würde ich sagen, dass Sucht etwas ist, nach dessen Entzug man Entzugserscheinungen hat in Form von Schweißausbrüchen, Aggressivität oder Unkontrollierbarkeit der eigenen Persönlichkeit. Das trifft nämlich meist nicht zu, weshalb man bei vielen Sachen auch nicht von Sucht reden kann. Außerdem ist Sucht eher ein Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum entwickelt.

Was ich auch für wichtig halte, ist das Verhältnis von "Wanting" und "Liking" hinsichtlich der Abhängigkeit: Während in der ersten Phase das "Liking" im Vordergrund steht und der Betroffene von der entsprechenden Aktivität in gewisser Hinsicht befriedigt wird und diese ihm auch gefällt, geht das Ganze in der zweiten Phase in das "Wanting" über, was sich dadurch auszeichnet, dass das Wollen - ohne, dass man dabei Freude oder Lust empfindet (kann aber nicht der Fall sein!) - stärker ausgeprägt ist und der Betroffene die Kontrolle über die Aktivität verloren hat. Erst dann kann man gezielt von Sucht sprechen.

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» getku » Beiträge: 883 » Talkpoints: 11,06 » Auszeichnung für 500 Beiträge



Ab wann es nur eine doofe Angewohnheit ist und ab wann es eine Sucht ist, muss man wohl für sich selbst entscheiden. Ich persönlich definiere Süchte schon so, dass man einem Verlangen stets nachgehen muss. Kann man diesem Verlangen nicht nachgehen, zeigt daraufhin Entzugserscheinungen, wie Unruhe, Schwitzen und Zittern, ist es schon keine doofe Angewohnheit mehr. Bei Gedanken an den Suchtstoff ist so eine Grenze - wird man an den Suchtstoff gedacht, ist es etwas anderes, als wenn man eben ab und zu daran denkt.

Natürlich könnte man ja zu jedem Suchtstoff oder zu jeder blöden Angewohnheit sagen, es reicht, mit Disziplin entgegenzuwirken. Aber der Körper gewöhnt sich ja nun auch an gewisse Dinge, wie Nikotin oder Alkohol. Und wenn dies plötzlich abgesetzt wird, kann man bei jedem Abhängigen durchaus einige Entzugserscheinungen bemerken, die man selbst aber nicht in den Griff bekommt.

Ob nun die Frau süchtig nach Wasser ist oder einfach nur viel Durst hast oder gar Angst davor hat, nichts mehr zu trinken bekommen hat. Für mich geht so etwas schon eher in Richtung Zwang und nicht unbedingt in Richtung Sucht. Da definiere ich jedes noch ein wenig anders. Einem Zwang geht man ja eher nach, wenn man nicht anders kann oder auch nicht will, weil einem etwas fehlt, aber meines Wissens nach weniger mit Entzugserscheinungen. Allerdings gebe ich darauf auch keine Garantie, ist nur meine Definition davon.

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» *steph* » Beiträge: 18439 » Talkpoints: 38,79 » Auszeichnung für 18000 Beiträge



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