Seelische Verletzungen in der Kindheit ein Leben lang?

vom 02.08.2019, 22:16 Uhr

Ich bin in einer Familie mit vielen Kindern groß geworden und heute frage ich mich, ob uns unsere Eltern überhaupt richtig liebhatten. Natürlich war es für unsere Eltern nicht einfach, uns alle zu vernünftigen und selbstbewussten Menschen zu erziehen und groß zu bekommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass unsere Mutter uns mal in den Arm genommen und gelobt hat. Wir Geschwister untereinander haben uns immer unterstützt und auch geholfen.

Inzwischen sind wir alle auch Eltern und wir unterstützten unsere Kinder wo wir nur können, ob es für die Schule oder fürs Berufsleben ist. Leider hat es unsere Eltern wenig interessiert, was aus uns mal wird und wir haben wenig Lob und Anerkennung für gute Leistungen bekommen, im Gegenteil unsere Mutter ist heute sogar neidisch, dass aus uns allen was geworden ist. Wenn ich mich manchmal mit meiner älteren Schwester unterhalte, sind wir schon ganz schön traurig und fragen wir uns manchmal, ob wir überhaupt gewollt waren.

Kennt ihr solche Familienbiografien auch? Ich dachte ja immer man vergisst solche schlechten Kindheitserlebnisse schnell wieder, aber scheinbar scheint dem nicht so zu sein. Meint ihr, dass solche seelischen Verletzungen aus Kindheitstagen ein Leben lang anhalten? Denn irgendwie kann man diese Erinnerungen einfach nicht ausblenden.

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» friedchen » Beiträge: 1312 » Talkpoints: 940,01 » Auszeichnung für 1000 Beiträge



Ich habe "nur" einen Bruder, aber habe auch keine guten Erinnerungen an meine Kindheit. Meine Eltern und mein Bruder zusammen waren eine tolle Familie. Er ist gelobt worden für alles Mögliche. Da ist es auch egal, dass er mit Pauken und Trompeten vom Gymnasium geflogen ist, nie Hausaufgaben gemacht hat, meine Mutter sogar in der achten Klasse noch neben ihm sitzen musste, damit er auch nur eine Aufgabe macht. Sitzengeblieben ist er auch. Seinen Hauptschulabschluss hat er mit Ach und Krach geschafft.

Ich dagegen war eben nur das Mädchen. Mir wurde auch schon als Kind gesagt, dass ich nicht gewollt war, eben einfach so passiert bin. Nach meiner Geburt blieb meine Mutter auch nicht zu Hause, nahm sich nicht sechs Jahre frei, um in den ersten Jahren dabei zu sein wie bei meinem Bruder.

Ich habe mein Abitur gemacht - und nicht ein Wort der Anerkennung bekommen. Kam ich mit einer 2+ nach Hause, wurde nicht einmal geguckt, sondern ohne aufzusehen gefragt, warum es keine 1 sei. Während meine Mutter bei meinem Bruder saß und seine Weigerung, Hausaufgaben zu machen, beaufsichtigte, schmiss ich mit 14 Jahren den gesamten Haushalt - und damals gab es noch keine Geschirrspülmaschine! Statt Lob gab es höchstens Meckern, dass etwas nicht fertig war!

Dieses alles hat mich irgendwie geprägt, ich kann mich davon nicht lösen. Es hat ja logischerweise meine Persönlichkeit mit verursacht. Insofern bleiben die Verletzungen. Aber ich denke, ich habe mich insofern davon gelöst, dass ich nicht mehr deswegen deprimiert bin oder dergleichen. Ich habe aber auch kein inniges Verhältnis zu meiner Mutter. Sie steht mir nicht näher als etwa meine Tante oder dergleichen.

Wo ich vielleicht noch eine Folge dieser Erlebnisse sehe, ist, dass ich selbst keine Kinder habe. Ich wollte auf keinen Fall so sein wie meine Eltern. Aber ich habe auch nie erlebt, wie man denn nun als Eltern zu sein hat. Und dieses Gefühl der familiären Verbundenheit, dieser Liebe, die es da geben soll, habe ich einfach nicht. Ich habe dieses Gefühl nie kennen gelernt. Ich habe es auch zu meinem Bruder nicht.

» SonjaB » Beiträge: 2698 » Talkpoints: 0,98 » Auszeichnung für 2000 Beiträge


Seelische Verletzungen bleiben ein Leben lang bestehen und prägen uns und unser Verhalten. Lob und Anerkennung war in meiner Kindheit ein Fremdwort. Im Gegenteil, ich wurde nur noch stärker runtergemacht und alles was ich gut gemacht habe, wurde entweder kaputtgemacht oder kaputtgeredet. Oft sind es Kleinigkeiten, aber mir sind auch größere Dinge passiert, über die ich nicht rede.

Ich wurde zum Beispiel jahrelang isoliert, konnte Freunde nur besuchen, wenn meine Mutter alleine war und mein Vater nicht anwesend war. Daher habe ich echt Probleme in der normalen Kommunikation mit Menschen und nur wenige Freunde. Teilweise laufe ich wie ein kleiner, ängstlicher Hund herum, weil ich diese Verletzungen in mir trage und nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.

Aber auch Verletzungen wie Käufe, die ich für mich selbst mache. Es ist besser geworden, aber ich erinnere mich an die Situation, dass ich in Heidelberg war und mir eine hübsche, silberne Kette gekauft habe und richtig stolz darauf war. Zuhause hat mein Stiefvater die Kette genommen und zerrissen und gemeint, dass sie niemals 150 Euro gekostet hat und ich eh nur lügen würde. Das hat mir verdammt wehgetan, weil ich mich wirklich gefreut habe. Und so ging es zu Hause mit vielen Dingen. Und dementsprechend reagiere ich auch manchmal im Erwachsenendasein.

Diese Verletzungen trägt man meiner Meinung nach immer in sich. Man kann damit umgehen lernen, man kann sie auch im gewissen Maße abfedern, aber irgendwo sind diese Wunden vorhanden und manchmal reißen sie auch auf. Ich breche immer weinend zusammen, wenn ich jetzt im Erwachsenendasein eine exzellente Note für eine Arbeit bekomme, ich kenne das aus der Kindheit gar nicht, dafür gelobt zu werden oder Ähnliches. Andere freuen sich, ich laufe tagelang nervös herum und warte auf ein Schriftstück, auf dem die Note steht, weil ich nicht das Vertrauen in mich habe, mal etwas gut gemacht zu haben. Und so schleppe ich die Vergangenheit oft mit mir herum, auch wenn die Qualen vorbei sind.

» Wibbeldribbel » Beiträge: 12546 » Talkpoints: 0,94 » Auszeichnung für 12000 Beiträge



Ich bin der Meinung, dass es gerade die Erlebnisse der Kindheit sind, die uns ein Leben lang prägen, im Guten wie im Schlechten. Also nichts mit "Vergessen"! In jungen Jahren wird uns der Grundstock für unser späteres Verhalten, unsere Ansichten, Werte, Ängste und einen Großteil unserer Persönlichkeit gelegt. Auch wenn wir uns nicht mehr im Detail daran erinnern, wie wir uns damals mit drei Jahren gefühlt haben, als dieses oder jenes passiert ist, so prägt unsere Kindheit uns doch ein Leben lang. Deswegen halte ich es auch für eine gute Idee, mal zum Therapeuten zu gehen, auch wenn man nicht komplett in die Kategorie "psychisch krank" fällt.

Ich behaupte auch nicht, dass man zwangsläufig eine "schlechte" Kindheit gehabt haben muss, um Altlasten mit sich herum zu schleppen, die einem das Leben schwer machen, obwohl man sich dessen gar nicht so bewusst ist. Aber alle Eltern sind eben nur Menschen und selbst wenn sie ihr Bestes geben, können und werden sie Schaden anrichten. Die gesellschaftlichen Zwänge helfen dabei auch nicht.

Beispielsweise kann ich mir schon vorstellen, dass Kinder darunter leiden, Mama und/oder Papa kaum zu Gesicht zu bekommen, aber wenn das Geld knapp ist, müssen eben beide arbeiten. Oder auch der Leistungsdruck quasi vom Kindergarten an - der macht auch keinem Spaß, aber viele Eltern wollen eben nach wie vor, dass es der Nachwuchs "einmal besser hat". Und wenn man sich nicht arg vorsieht, überträgt man als Elternteil auch die eigenen Unsicherheiten, Ängste und sonstigen Störungen auf die Kinder und versaut sie auf diese Art völlig unabsichtlich.

In meinem Fall war bestimmt auch kein böser Wille im Spiel. Aber meine Eltern sind eben auch nur mit "Stell dich nicht so an!", "Nicht geschimpft ist genug gelobt!", und "Was sollen die Nachbarn sagen!" groß gezogen worden, und ich mühe mich jetzt damit ab, daraus ein "Meine Bedürfnisse sind wichtig", "Ich habe ein Recht auf Anerkennung" und "Ich muss nicht von jedem gemocht werden!" zu machen.

» Gerbera » Beiträge: 11292 » Talkpoints: 42,29 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



Nichts für Ungut - aber wahrscheinlich kann so ziemlich jeder irgendwelcher Erlebnisse aus einer Kindheit herauskramen, die zeigen sollen, dass er nicht genug Aufmerksamkeit bekommen hat oder nicht genug geliebt wurde oder, dass die Geschwister ja viel besser behandelt wurden.

Natürlich hat man das subjektiv damals so empfunden, aber es ist eben die subjektive Wahrnehmung eines Kindes und ich sehe keinen Sinn darin als Erwachsener diesen kindischen Empfindungen nachzuhängen. Wenn Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt und Missbrauch erfahren haben, den Täter vergeben können und erkennen, dass es sie nicht weiter bringt wenn sie nachtragend sind, dann kann ich doch wohl damit klarkommen, dass meine Eltern hohe Erwartungen an meine schulischen Leistungen hatten und, dass ich kein Pony zum Geburtstag bekommen habe.

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» Cloudy24 » Beiträge: 27476 » Talkpoints: 0,60 » Auszeichnung für 27000 Beiträge


Die Kindheit ist nun mal sehr prägend und es kann zur Belastung werden, wenn man da schlimme Dinge erlebt hat. Wobei perfekt läuft es sicherlich wirklich selten. Ich hatte auch keine gute Mutter, meinem Vater war prinzipiell alles egal und er hat ihr auch alles geglaubt, egal welche Lüge es mal wieder war in Bezug auf mich. So habe ihr laut ihrer Aussage nichts anderes gemacht als sie zu schikanieren und sie fertig zu machen. Wobei ich einfach nur in meinem Zimmer war und nichts gemacht habe, ihr sogar beim Abwasch und Kochen geholfen habe.

Außerdem war wohl der Spruch meiner Kindheit: "Du schaffst das eh nicht." Das prägt unglaublich, wenn das dir die nahestehendsten Menschen in deinem Leben sagen und du glaubst es. Ich war sehr lange ein sehr schüchterner Mensch deswegen, habe mir nichts zugetraut und hatte vor allem was mit anderen Menschen zu tun hatte Angst. Ich habe hart an mir gearbeitet, aber hätte ich das nicht, hätte mir meine Kindheit mit allen Bosheiten, dem Schlagen und dem seelischen Fertigmachen wohl mein Leben versaut.

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» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge


Ich glaube, dass es sehr viele Menschen gibt, die seelischen Verletzungen durch die Eltern in ihrer Kindheit erlitten haben. Ich kenne das auch zur Genüge und ich habe gewissen Dinge lange, lange meiner Mutter übel genommen und "nachgetragen". Inzwischen weiß ich, dass sie nicht anders konnte und immer das Beste für mich wollte. (Ich weiß, das klingt echt klischeehaft ;-) ) Aber auch sie hat ihre Geschichte für die sie nichts kann.

Ich habe drei inzwischen erwachsene Kinder und weiß, dass wir auch nicht immer alles richtig gemacht haben in der Erziehung. Und dass auch unsere Kinder einige seelische Verletzungen davon getragen haben, ohne dass es uns damals bewusst war. Das tut uns sehr leid!

Wenn man selbst durch diese Verletzungen sehr beeinträchtigt ist in seinem Erwachsenenleben und noch darunter leidet, dann kann ich nur empfehlen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, um diese Erlebnisse aufzuarbeiten.

Auch Vergebung ist ein sehr wichtiger Faktor und kann viel Positives bewirken. Hierbei kann ein Psychotherapeut oder auch ein Seelsorger (wie z.B. der Pastor oder die Pastorin der Gemeinde) große Hilfe leisten.

» Kirchenbotschafter » Beiträge: 91 » Talkpoints: 21,81 »



Eine Kindheit ist prägend und wenn sich gewisse Abläufe immer und immer wiederholen, dann werden diese Themen auch als Erwachsener eine Rolle spielen. Anders als als Kinder, je nach Situation, können wir als Erwachsene jedoch unser Handeln, Denken und teils die emotionale Bahn lenken. Subjektive Wahrnehmungen von damals, sollten sie jedoch wirklich nur subjektiv sein, dürfen daher wirklich nicht das Leben im Alltag als Erwachsene/Erwachsener bestimmten.

Bei Thematiken wie Missbrauch als Kind, wovon ich selbst betroffen bin, sieht die Geschichte leider anders aus. Da habe ich bis heute drunter zu kämpfen und ich verzeihe im Übrigen keinem meiner Täter so etwas. Da gibt es nichts zu verzeihen und steigert nicht meinen Heilungsprozess im Bezug auf schwere chronische posttraumatische Belastungsstörungen sowie emotionale Probleme aufgrund dessen. Es soll aber Patienten und Patientinnen geben, die das Verzeihen wie Cloudy ansprach als Selbstheilung brauchen, das ist Okay.

Einzig die Schwierigkeit der Flashbacks meiner gesamten Kindheit inklusive der Taten und die emotionale Geschichte, dass ich vielen Stellen kalt gegenüber stehe und das ich Trigger-Wörter nicht ausstellen kann, weil mein Hirn danach selbst Kino-Flashback spielt, machen mir zu schaffen. Dies hat aber eben auch damit zu tun, dass sich Scheiße nach Scheiße in meiner Kindheit abgespielt hat, sodass sich diese Erinnerung so fest verankert hat, dass ich teils die Kontrolle verloren habe, wann mein Hirn bei einem Triggerwort in ruhigen Minuten wieder Flashbacks schiebt. Wenn ich auf der Arbeit bin, beschäftigt, TV schaue usw. dann geht es einigermaßen sehr gut bis gut.

Ansonsten mal ein kurzes Beispiel. Im TV wird über Missbrauch eines Kindes gesprochen. Schon parallel während ich dann TV schaue, spielt mein Hirn alles aus der Kindheit fein säuberlich gedanklich ab, aber gleichzeitig bin ich mit dem TV schauen beschäftigt. Das ist also auch parallel dazu emotional anstrengend, sich auf das Fernsehprogramm weiter zu konzentrieren. Dasselbe kann passieren, wenn ich mit jemanden rede. Sprich, als wenn mein Hirn dann weiter die Aufmerksamkeit demjenigen oder dem TV, der Zeitung etc schenkt, aber gleichzeitig auch alte Szenarien hochholt, die gerade zum Triggerwort passen.

Ich kann Euch sagen, auch wenn ich damals ein Kind und teils Jugendliche war, diese emotionale Anstrengung, sich selbst nicht kontrollieren zu können, das ist nicht leicht im Alltag. Das ist wie ein dauerhaft stressiger Zustand, nur das ich diesen nicht raushängen lasse.

Nur mal eben als Beispiel dessen, wie viele eine psychische Schädigung als Kind abtun nach dem Motto, das wird einen nicht mit nachhaltigen Problemen belasten. Doch wenn wir jetzt anfangen jedes Trauma als Kind, und alles kann als Traumata gewertet werden, als erwachsener Mensch aufzuarbeiten, dann werden wir alle wohl zu kämpfen haben.

Man muss aus gewissen Dingen das Beste machen, auch wenn man manchmal in den Möglichkeiten etwas gehemmt erscheint. Erst einmal hilft es zu akzeptieren, dass man an der Kindheit nichts ändern kann, aber ich dafür die Gegenwart beeinflussen kann. Das hilft einigen wirklich, so klischeehaft das auch ist.

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» Kätzchen14 » Beiträge: 6121 » Talkpoints: 1,40 » Auszeichnung für 6000 Beiträge


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