Experiment: Rollstuhlfahrer für einen Tag

vom 04.11.2009, 13:03 Uhr

Ich war neulich auf einem Lehrgang, welchen ich für meine berufliche Tätigkeit brauchte. Dort sollten wir uns aus Gründen der Toleranz einen Tag in einen Rollstuhl setzen um nachzuvollziehen, wie sich Behinderte in unser heutigen Welt fühlen. Während dieses Tages haben wir verschiedene Aufgaben bekommen, die wir ausprobieren sollten. Ich sollte mit meiner Begleitperson nach Bremen in die Innenstadt gehen und dort einige Dinge austesten.

Es begann mit einer halbstündigen Zugfahrt von einem relativ kleinen Bahnhof mitten auf dem Lande. An diesem Bahnhof war ich mit meiner Begleitperson alleine und musste in den nächsten Zug nach Bremen "steigen". Das Einsteigen gestaltete sich sehr anstrengend und problematisch. Erst ein Mann, welcher schon im Zug saß, half nach netter Bitte meiner Begleitperson. Der Höhenunterschied von der Bahn zum Bordstein war bestimmt 40 Zentimeter und nicht einfach so zu überwinden. Das Bahnpersonal hat mich nichtmal bemerkt, hat also nicht diese Rampe angeboten, die sonst das Einsteigen für Behinderte erleichtert. Mir war es dort schon unangenehm, weil mich alle anstarrten und einige sauer über eine mögliche Verspätung waren, ich spürte irgendwie, dass ich in diesem Zug nicht erwünscht war. Dasselbe geschah dann nochmal in Bremen am Hauptbahnhof, wo aber mehrere Leute mithalfen, mich aus dem Zug zu wuchten.

In Bremen selbst sollten wir einige Kneipen und Gaststätten auf ihre Behindertenfreundlichkeit austesten. Als mich meine Begleitsperson durch die City schob, merkte ich erstmals wie unterwürfig man sich vorkommt, wenn man auf der Höhe sitzt, wo andere Menschen ihr Becken haben und man immer von unten auf alle hoch sehen muss. Ein sehr unangenehmes Gefühl. Ich bemerkte auch gleich die Blicke, die mir fast jeder zuwarf, der an mir vorbei musste. Es gab in der Bremer Innenstadt einige Kneipen, die behindertengerecht sind, jedoch mussten wir auch des Öfteren draussen trinken/ essen, weil es keine Möglichkeit für Rollstuhlfahrer gab, die Gaststätte zu betreten. Sehr schade meiner Meinung nach.

Nach einiger Zeit musste ich dann auf Toilette, was wir bei Galleria Kaufhof in der Innenstadt machen wollten. Dort bemerkten wir dann jedoch, dass die Behindertentoiletten mit einem bestimmten Schlüssel verschlossen waren. Auf Nachfrage wurde uns die Information herausgegeben, dass Behinderte einen speziellen Schlüssel haben, damit sie in verschiedenen Einrichtungen die Behindertentoilette benutzen können und diese nicht von gesunden Menschen blockiert wird. Diese Idee finde ich super, sofern jeder Rollstuhlfahrer wirklich so einen Schlüssel hat. Die Dame öffnete uns jedoch dann die Tür. Der Toilettengang war sehr umständlich und an diesem Punkt war ich das erste Mal kurz davor, die Aktion abzublasen, da ich wahnsinnig genervt war. Aber das war ja das Ziel der Übung, damit man merkt, wie sich Menschen fühlen, die wirklich an den Rollstuhl "gefesselt" sind.

Weiter ging es zum öffentlichen Training von Werder Bremen. Obwohl ich HSV-Fan bin, begaben wir uns dort hin, um etwas mit den Spielern zu quatschen. Wir waren etwas zu spät erschienen und waren schon enttäuscht, keinen der Spieler mehr getroffen zu haben. Doch plötzlich fuhr ein Sportwagen auf das Gelände, aus dem Torsten Frings ausstieg. Ich fragte nach einem Foto und er entgegnete mir, dass er schon zu spät sei und Strafe zahlen müsse, wir aber schnell ein Foto machen können. Das fand ich sehr nett, ich glaube er hatte einfach Mitleid. Später kam dann auch noch Abwehrspieler Naldo, der etwa dasselbe sagte, wie Torsten Frings.

Die Zugrückfahrt war dann nochmals mindestens genau so anstrengend, wie die Hinfahrt, zumal der Zug noch voller war, als zuvor.

Ich habe durch diese Übung viel gelernt und kann nun besser nachvollziehen, wie sich Behinderte fühlen. In Zukunft achte ich jedenfalls noch besser auf Rollstuhlfahrer, weil ich weiß, wie schwer das Leben ist- obwohl ich nichtmal einen kompletten Tag im Rollstuhl saß.

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» HSV91 » Beiträge: 190 » Talkpoints: 3,86 » Auszeichnung für 100 Beiträge



Ich glaube es würde einigen mal ganz gut tun, ebenfalls so ein Experiment mitzumachen. Man kann sich als gesunder Mensch gar nicht vorstellen, was Rollstuhlfahrer für Einschränkungen haben. Als wäre ihre Behinderung nicht so schon schlimm genug.

Ich habe mal gesehen, wie man einen Rolstuhlfahrer einen Tag lang begleitet hat. Schon das Einkaufen, für uns eine ganz normale Sache, gestaltete sich mehr als schwer, weil an viele Produkte einfach ohne Hilfe nicht heranzukommen war. Wenn ich allerdings einen Rollstuhlfahrer sehe, frage ich auch nicht immer gleich ob ich helfen kann. Das ist mir da eigentlich erst bewusst geworden. Ich habe immer gedacht, dass ich ihn dann reduziere, weil er nicht herankommt und er meine Hilfe vielleicht gar nicht möchte. Aber ich denke schon, dass man sich eher trauen sollte, mal die Hilfe anzubieten.

Letztens war ein Rollstuhlfahrer in der Bahn und eine Mama parkte ihren Kinderwagen genau vor diesem. Man bekam deutlich mit, dass er heraus wollte und sie machte keine Anstalten zu rutschen. Ich habe sie dann darauf aufmerksam machen müssen. Immerhin hat sie sich wegbequemt. Als ob jemand was dafür kann, dass er im Rollstuhl sitzt...

Und wegen Mitleid: ob das nun gut ist oder nicht, naja. Ich denke die Leute sind es Leid bemitleidet zu werden. Andererseits sind sie auch auf fremde Hilfe einfach angewiesen - zum mindest eben teilweise. Mir tun Rollstuhlfahrer schon leid. Es kostet doch unheimlich Kraft das so zu managen.

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» winny2311 » Beiträge: 14987 » Talkpoints: 4,75 » Auszeichnung für 14000 Beiträge


Von so einem Experiment habe ich echt noch nie gehört, finde es aber gut, dass es so etwas gibt. Meiner Meinung nach, müsste das echt jeder mal machen müssen, denn die Menschen sind, glaub ich, einfach zu ignorant.

Alleine schon die Reaktion, die du beschrieben hast, als du in den Zug "eingestiegen" bist. Man, was sind denn schon ein paar Minuten? Und wenn mehr helfen würden, dann würde es auch schneller gehen. Aber das Verständnis fehlt eben vielen und da ist es einfacher mürrisch drein zu blicken, als selbst mal anzupacken.

Und eigentlich müsste es auch selbstverständlich sein, dass Behinderten der Zutritt zu sämtlichen öffentlichen Anlagen ermöglicht wird. Denn es sind auch Menschen, die meist noch nicht mal was dazu können, dass sie im Rollstuhl sitzen. Manchmal ist sogar einer der ignoranten Menschen dran Schuld, die jetzt vorwurfsvoll gucken...

» makaveli83 » Beiträge: 1 » Talkpoints: 0,52 »



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