Inklusionsprojekt - Auch etwas für Verwaltungmitarbeiter?

vom 20.10.2019, 18:44 Uhr

Die zuständigen Verwaltungsmitarbeiter unserer Stadt arbeiten in Zusammenarbeit mit unserem Tourismusverband offiziell ständig an der Barrierefreiheit. Zwischen Praxis und Theorie liegen aber leider Welten. An vielen Stellen meiner Heimatstadt ist davon nichts zu sehen. In Schulen lernen Kinder die Handicaps von Geh-, Seh und Hörbehinderten Menschen in einem sogenannten Inklusionsprojekt kennen.

Im Rahmen des Inklusionsprojekts „Wir sind alle Menschen“ schlüpften die Kinder für einige Stunden in die Rolle von Menschen mit Handicap und erfuhren zunächst in der Theorie einiges über das Leben als Mensch mit einer Behinderung. Ziel war dabei unter anderem, die Schüler auch zu sensibilisieren für Fragen wie „Was kann jeder von uns tun, um Menschen, die anders sind, am ‚normalen‘ leben teilhaben zu lassen?“

Dann ging es für die Kinder in die Praxis. Mit Gehörschutz, Augenbinde und Rollstuhl streiften sie durch die Stadt und sollten sich aufschreiben, wo alltägliche Barrieren lauern und was an bestimmten Stellen fehlt oder verändert werden müsste. Zum Beispiel wurde den Schülern auch mit auf den Weg gegeben nach rollstuhlgerechten Toiletten Ausschau zu halten.Nach einer guten Stunde wurden die Eindrücke gemeinsam ausgewertet.

Sie kamen zum Schluss, dass auf Rollstuhlfahrer schon Rücksicht genommen wird, aber als Blinder oder hörgeschädigter Mensch durch die Stadt zu gehen sei schon sehr schwer. An manchen Bereichen wie dem Omnibusbahnhof sei es sogar ziemlich gefährlich gerade für blinde Mitbürger. Außerdem seien viele Hinweistafeln oder Speisekarten schlecht angebracht und rollstuhlgerechte Toiletten seien zwar vorhanden aber dafür bräuchte man dann erst einen speziellen Schlüssel den man im Touristenbüro bekäme.

Meiner Meinung nach sollten die zuständigen Verwaltungsmitarbeiter inklusive dem Bürgermeister auch einmal so einen Praxistag erleben um die Stadt mal wirklich sinnvoll barrierefrei zu gestalten. Denkt ihr, man könnte so etwas mal als Anregung an die zuständige Stelle einer Stadt vorschlagen oder wird so etwas schon gemacht? Und wenn ja, woran liegt es dass es immer noch so viele Barrieren gibt? Weiß das jemand?

» EngelmitHerz » Beiträge: 3943 » Talkpoints: 17,00 » Auszeichnung für 3000 Beiträge



Für mich würde es bestenfalls eine PR-Maßnahme darstellen, schlimmstenfalls aber eher als Verhöhnung der Betroffenen, wenn der Bürgermeister im Rollstuhl durch die Stadt rödelt. Für junge Leute sind derlei Projekte ja noch ganz interessant, weil diese naturgemäß sich selbst als Maß aller Dinge ansehen und plakativ vorgeführt bekommen müssen, dass der Alltag für manche Menschen beschwerlicher ist als für andere und dass Rücksichtnahme und Empathie gepflegt werden müssen.

Aber ich fände es schon sehr befremdlich, wenn jemand einerseits Entscheidungsträger auf kommunaler Ebene ist, andererseits nur mit Tricks dazu gebracht werden kann, auf den Trichter zu kommen, dass beispielsweise das Standesamt keinen behindertengerechten Eingang hat. Ich kann mir auch vorstellen, dass die meisten Todesfallen für körperlich beeinträchtigte Menschen schon längst von Privatleuten oder Verbänden an den entsprechenden Stellen gemeldet wurden. Aber dann ist wie so oft kein Geld da, oder der Denkmalschutz spielt nicht mit, oder es ist sowieso ein barrierefreier Weg "geplant" und so weiter. Viele "Verwaltungsmitarbeiter" würden vielleicht privat sogar gerne Abhilfe schaffen, aber es kennt ja jeder die Mühlen der Bürokratie.

Solche Geschichten geistern immer wieder durch die Medien. Der Journalist Raul Krauthausen beispielsweise kämpft schon seit Jahren für Barrierefreiheit und Inklusion. Mit einem medienwirksamen: "Ach nein, sieh mal an, die Schwelle zum Klohäuschen aus den 1970ern ist für einen Rollstuhl aber viel zu hoch!" ist es offensichtlich nicht getan.

» Gerbera » Beiträge: 11289 » Talkpoints: 41,52 » Auszeichnung für 11000 Beiträge


Ich finde es zunächst einmal ziemlich ungünstig hier das Wort Inklusion zu benutzen. Sicherlich mag das begrifflich schon richtig sein, wird doch aber heutzutage vor allem im Bildungswesen dafür benutzt auch geistig behinderte Kinder in den normalen Schulalltag zu integrieren. Und das ist ja nun etwas ganz anderes als das hier beschriebene. Da muss ich zugeben als ich den Titel gelesen habe, habe ich jetzt gedacht ich heirate demnächst vor einem geistig behinderten Standesbeamten, der von einem gesunden durch die Zeremonie begleitet wird.

Grundsätzlich ist die Idee aber sicherlich nicht so verkehrt. Ich glaube nämlich im Gegensatz zu Gerbera schon, dass man recht schnell betriebsblind wird und auch in so einem Verwaltungsgebäude wahrscheinlich alle sehen, dass der Rollstuhlfahrer nicht über die Stufe am Eingang kommt. Dass dann aber drin der Fahrstuhl nur bis in die dritte Etage fährt und man nicht zum Sachbearbeiter in der vierten kommt, das fällt mal schnell durch das Raster.

Die entscheidende Frage ist dann aber natürlich, ob man aus solchen Projekten auch Konsequenzen zieht. Es bringt natürlich nichts, wenn an dem Tag alle sehen was nicht funktioniert und am nächsten Tag wird normal weitergearbeitet und keiner beseitigt die Hürden. Und ich denke gerade in Bereichen wie rollstuhlgerechte Eingänge ist es doch eher so, dass es von uns kaum jemanden interessiert oder auffällt, ob man mit einem Rollstuhl irgendwo lang kommt. Warum sollte ich darauf auch achten in meinem Alltag? Das klingt jetzt hart, aber der normale Mensch achtet doch darauf, was für ihn wichtig ist. Und solange man nicht auf einen Rollstuhl angewiesen ist, kümmert man sich doch nicht darum. Daher glaube ich auch nicht, dass alle wichtigen Stellen von irgendwelchen Privatpersonen gemeldet werden.

Und von Seh- oder Hörgeschädigten will ich noch nicht einmal anfangen. Das können sich doch gesunde Menschen noch viel weniger vorstellen. Ich glaube nicht, dass jemand wirklich halbwegs abschätzen kann, wie es ist taub durch eine Stadt zu laufen oder sich vorstellen kann, wie hilflos man vielleicht ohne Augen ist und was man dann tun kann um jemand mit den Tast- und Hörsinnen durch eine Stadt zu leiten.

» Klehmchen » Beiträge: 5487 » Talkpoints: 1.012,67 » Auszeichnung für 5000 Beiträge



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