Erklärungsversuche für Kindestötungen im Osten

vom 25.02.2008, 00:27 Uhr

In Sachsen-Anhalt hat Ministerpräsident Wolfgang Böhmer versucht für die vielen Kindestötungen im Osten Erklärungen zu liefern. Dass seine Erklärungen auf die übernommene DDR-Mentalität beruhten stieß gegen heftige Kritik.

Böhmer als gelernter Gynäkologe bekräftigte, dass die Frauen in der damaligen DDR einen ziemlich leichtfertigen Umgang mit Babys bzw Geburten hatten. Nur weil sie einen Job in Bulgarien bekommen hätten, ließen sie ihre Schwangerschaft abbrechen. „Das meine ich mit leichtfertigem Umgang.“ Gegen die zunehmende Arbeitslosigkeit sprach er sich aus. Er meinte niemandem gehe es in Deutschland so schlecht, dass man sein eigenes Kind umbringen muss.

Viele sprachen sich nun gegen diese Behauptung aus. Nach der Meinung eines Psychotherapeuten sind diese Kindestötungen kein Erbe der DDR, sondern vielmehr die gegenwärtigen schlechten sozialen Umstände. Darüber hinaus gäbe es im Osten einen zunehmenden und größeren Unterschied zwischen Arm und Reich als im Rest von Deutschland und die Frauen hätten einfach Angst vor der Zukunft und bangen um ihre Existenzgrundlage.

Wie seht ihr die Meinung von Böhmer? Laut einer aktuellen Umfrage mit 550 Stimmen finden 54%, dass Böhmer recht hat und 46%, dass er unrecht hat.

» LaMb 0f g0d » Beiträge: 92 » Talkpoints: 0,09 »



Sicher war es leichter in der DDR ein Kind abzutreiben. Da war nichts mit Beratung. Termin im Krankenhaus und fertig. Aber ich kann doch nicht alles auf diese Vergangenheit schieben. Denn man muss doch mal das Alter der Frauen sehen, die ihre Kinder umbringen. Die meisten waren noch Kinder und Jugendliche als die Wende kam und hatten mit dem Thema Abtreibung gar nichts zu tun.

Und selbst vor der Wende gab es in beiden deutschen Staaten schon Kindstötungen. Ich kenne selbst einen Fall aus meiner unmittelbaren Umgebung. Da wurde das Baby auf der Mülldeponie gefunden. Eine Mutter konnte damals nicht ermittelt werden. Nach der Wende kam dann doch mal raus, wer die Mutter des Kindes war. Hat nichtmal weit weg vom Fundort gelebt.

» Punktedieb » Beiträge: 17970 » Talkpoints: 16,03 » Auszeichnung für 17000 Beiträge


Das hatte ich gestern auch gelesen. In dem Bericht stand aber noch etwas, über das ich mich echt aufgeregen musste. Ich weiß nicht, ob da Böhmer zitiert wurde oder irgendwo anders, aber da hieß es, Kindstötung sei im Osten so etwas wie ein Mittel zur Familienplanung.

Sowas auszusprechen, egal wer das nun war, ist ja wohl der Oberhammer. Die meinten vor allem nichtmal nur Abtreibung, sondern tatsächlich Mord. Meine Wut darüber kann ich gar nicht in Worte fassen. (Das Ganze hatte ich im Übrigen irgendwo in den Nachrichten bei Yahoo gelesen, falls das wer nachlesen möchte.)

» pitti » Beiträge: 641 » Talkpoints: 29,86 » Auszeichnung für 500 Beiträge



Der "Erklärungsversuch" ist ja mal absolut lächerlich! So einen bescheuerten Ansatz habe ich ja selten irgendwo gelesen. Auf der Grundlage könnte Herr Böhmer auch gleich noch erklären, warum es im Westen mehr rechte Parteien und rechtsextreme Strömungen gibt / gab: Schließlich hat hier eine Entnazifizierung geschichtlich erwiesen nicht wirklich stattgefunden. Total lächerlich.

Und so wie die Situation in der DDR sowohl als Argument für eine Abtreibung gewertet werden kann, kann man sie auch als Argument gegen eine Abtreibung werten, denn Kinder kriegen und berufstätige Mutter sein war in der DDR wesentlich einfacher als heute, mal abgesehen von den Vorteilen die man durch ein Kind hatte.

Irgendwie scheint Herr Böhmer nicht in der Lage zu sein, die Gesamtlage zu bewerten, sondern nur dazu Einzelaspekte zu überbewerten.

» KrashKidd » Beiträge: » Talkpoints: Gesperrt »



Ich finde den Erklärungsversuch von Böhmer ebenfalls lächerlich, in den meisten Fällen handelt es sich um sehr junge Mütter, die haben doch das System in der DDR gar nicht mehr erlebt und sind kurz vor der Wende zur Welt gekommen. Da würde man ja praktisch Mütter im Osten grundsätzlich als Monster hinstellen, denen indoktriniert wurde, dass das Leben eines Kindes nichts wert ist, das ist doch haarsträubend.

Das mit dem höheren Unterschied zwischen Arm und Reich, das würde ich dann noch am Ehesten gelten lassen, aber die Aussage stammt ja auch nicht von ihm. Ich denke halt einfach, dass Frauen in Gegenden, in denen die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist und Null Zukunftsperspektiven herrschen eher durchdrehen, und da es im Osten nun einmal in vielen Gegenden eine Häufung solcher No-Future-Bezirke gibt, wie ich sie jetzt mal salopp nenne, kann ich mir gut vorstellen, dass es daran liegt, dass die Zahlen im Osten höher sind.

Es geht auch nicht allein darum, dass es in Deutschland niemand nötig hat, sein Kind zu ermorden, wie Böhmer es so in etwa formuliert hat. Klar, es gibt die Tafeln und die Caritas und niemand muss hier verhungern. Das ist aber nicht der Punkt.

Es geht darum, dass es diesen Frauen psychisch extrem schlecht geht, sie sind labil und in einigen Fällen wohl auch drogenabhängig bzw. Alkoholikerinnen. Ich finde diese Fälle unendlich grausam, nichts rechtfertigt sie, aber es geht ja hier um Erklärungsversuche.

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» netti78 » Beiträge: 3238 » Talkpoints: 18,35 » Auszeichnung für 3000 Beiträge


Der Thread ist zwar nun schon wieder knappe 8 Monate alt, aber bei uns kam heute auch wieder die Diskussion auf (Herr Böhmer rauschte im Dienstwagen mit einigen Bodyguards an uns vorbei), da das der Punkt war, an dem Herr Böhmer in meinem Bekanntenkreis viele Sympatien verloren hat.

Wie meine Freunde, finde auch ich diesen Erklärungsversuch völlig unzureichend - zu viele Fragen bleiben offen. Punktedieb und netti schrieben es schon, viele der Kindstötungen wurden von jungen Müttern verübt, die das DDR-System meist nur im Kleinkindalter kennen gelernt haben. Sicher hat nicht nur das Einfluss auf die heutigen jungen Erwachsenen, auch der Umgang in der Familie mit diesem Thema spielt eine Rolle.

Es ist wohl unbestritten: in der DDR war es nun mal einfacher ein Kind abzutreiben und daher könnte sich durchaus ein laxerer Umgang mit werdendem Leben ergeben haben. Trotz der einfacheren Möglichkeit haben sich viele Frauen diese Entscheidung nicht leichter gemacht als es Frauen heute tun.

Deswegen finde ich es trotz einiger (unwiderlegbarer) Fakten sehr gewagt von einer leichtfertigeren Einstellung zur Abtreibung gleich zu einer höheren Bereitschaft zum Mord an einem Kind zu schließen. Da stellt sich mir auch die Frage: warum die Empörung in Ost und West gleichermaßen groß ist, wenn wieder ein solch trauriger Fall bekannt wird. Müsste es da bei den Ossis und deren Nachfahren nicht auch weniger Empörung geben?

Aber, und das erwähnte KrashKidd schon, es gab ja nicht nur den einfacheren Weg zur Abtreibung. Beruf und Kind zu vereinbaren war in der DDR auch einfacher, ebenso hatte man gegenüber kinderlosen Familien mehr Vorteile mit Kindern. Müsste diese Einstellung nicht auch nachwirken? Gibt es eine plausible Erklärung warum Eines nachwirkt, das Andere nicht?

Mindestens genauso interessant ist die Anmerkung von netti: Menschen die ihr Kind töten befinden sich fast immer in einem psychischen Ausnahmezustand. Und für eine solche Tat gibt es in den seltensten Fällen nur ein Motiv, meist sind es mehrere Motive, die sich eher selten normalpsychologisch erklären lassen. Das Ganze dann mit einer solch einfachen Darstellung erklären zu wollen ist für mich - trotz aller Erfahrung des Herrn Böhmer - einfach nur :twisted:

» JotJot » Beiträge: 14058 » Talkpoints: 8,38 » Auszeichnung für 14000 Beiträge


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