Etwas unterrichten, was man nie gelernt hat?

vom 18.08.2015, 12:23 Uhr

Als ich noch in der Oberstufe war, hatte ich einen sehr tollen Lehrer in Englisch und auch in Russisch. Ich mochte ihn total wegen der Art her, auch wenn er sehr anspruchsvoll war. Da ich später auf diese Schule gewechselt bin, hatte ich eben auch mit Mitschülern zu tun, die schon direkt nach der Grundschule aufs Gymnasium gekommen sind und deswegen auch Latein lernen mussten.

Diese Schüler hatten dann auch den oben genannten Lehrer im Lateinunterricht, der seinen Job wirklich gut gemacht hat. In der 12. Klasse hat er uns jedoch offenbart, dass er weder in der Schule noch im Studium nie Latein gelernt hätte und es trotzdem unterrichtet hätte, weil eben Lehrermangel vorhanden war und der Schulleiter ihn darum gebeten hätte.

Das hat natürlich gerade die Latein-Schüler aus seinen Klassen damals ziemlich überrascht und auch geschockt. Denn er war immer so gut vorbereitet auf den Stoff und wusste immer alle Fragen, dass nie jemand gemerkt hatte, dass er das gar nicht wirklich gelernt hat, sondern sich das zu Hause vor den Stunden autodiktisch beigebracht hat.

Habt ihr schon ähnliche Erfahrungen gemacht? Würdet ihr etwas unterrichten, was ihr nie gelernt habt oder würdet ihr euch unwohl dabei fühlen?

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» Olly173 » Beiträge: 14700 » Talkpoints: -2,56 » Auszeichnung für 14000 Beiträge



Es gibt sehr viele Lehrer, die fachfremd unterrichten, weil Lehrermangel herrscht, weil ein Kollege länger krank ist oder aus sonstigen Gründen. Ich halte das auch nicht unbedingt für ein Problem. Der Mensch, der vorne vor den Schülern steht, muss die "Meute" im Griff haben und vor allem das Wissen vermitteln können. Das ist in meinen Augen die viel größere Kunst, als irgendwann einmal Fachwissen angehäuft zu haben.

Den umgekehrten Fall hatte ich leider in der Schule. Unser Physiklehrer war in seinem Fach bombastisch. Er war fix, findig, konnte jedes mathematische und physikalische Problem begreifen und lösen. Leider konnte er es aber so gut wie nicht erklären, geschweige denn lehren. Das war dann wirklich ein Problem :(

Ich selbst habe fast alle zusätzlichen Ausbildungen autodidaktisch erworben. In Französisch habe ich auch jahrelang Nachhilfe erteilt, insbesondere für Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche. Das hatte einen so durchschlagenden Erfolg, dass mich immer alle für eine Lehrerin gehalten haben, die ich aber gar nicht bin. Natürlich habe ich das immer richtiggestellt. Aber unwohl habe ich mich dabei nie gefühlt. Ich wusste ja, was ich tat, und das Wissen, das es zu vermitteln galt, stand ja zur Verfügung.

» tok_tumi » Beiträge: 837 » Talkpoints: 1,20 » Auszeichnung für 500 Beiträge


Im Prinzip spielt es doch keine Rolle, was man mal gelernt hat, wenn man den Stoff gut herüberbringen kann und vor allem auch alle Fragen beantworten kann. Man kann sich ja durchaus in Themen einlernen und sich damit auseinandersetzen. Es kann ja auch sein, dass man sich dafür interessiert und gerade wenn man Lehrer einer Sprache ist, dann wird man privat sicherlich auch noch andere Sprachen gerne lernen und sich so auch entsprechend weiterbilden, so dass man dann auch Unterricht geben kann. Das ist doch auch absolut in Ordnung und in heutiger Zeit dank Lehrermangel ein wichtiger Faktor.

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» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge



Ich denke, dass speziell dieser Lehrer Latein nie gelernt hat, kann man so direkt nicht sagen. Um es zu unterrichten und dann auch noch gut zu unterrichten, muss er es ja irgendwann gelernt haben. Er hat also nur keine Bescheinigung darüber, hat es also weder im Schulzeugnis stehen noch einen Studienabschluss über seine Kenntnisse.

Und unter diesem Gesichtspunkt habe ich gar keine Probleme damit. Autodidakten sind meiner Meinung nach keineswegs schlechter als Leute, die Bescheinigungen haben. Manchmal ist es sogar umgekehrt. Autodidakten befassen sich ja wirklich mit dem Thema, es interessiert sie, sie versuchen Lösungen für Probleme zu finden, was sie nicht verstehen. Wenn ich dagegen nur in der Schule oder im Studium mit dem Lehrstoff berieselt werde, behalte ich es nicht unbedingt.

Ich selbst habe etwa in meinem Schulzeugnis der elften Klasse stehen, dass ich die englische Sprache ausreichend beherrsche. Wer sich damals mit mir hätte unterhalten wollen oder einen von mir geschriebenen Text gelesen hätte, hätte die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Verdient hätte ich eigentlich ein mangelhaft oder ungenügend als Note.

Aus Interesse - und weil mich ein Nachhilfeschüler gefragt hatte, dem ich bisher in Mathematik geholfen hatte - habe ich mich nach dem Abitur dann hingesetzt und mir die englische Grammatik beigebracht. Es war nicht einfach, mit vielen Lehrbüchern kam ich gar nicht zurecht, hatte die gleichen Probleme wie in der Schule und verstand nur Bahnhof. Der Durchbruch kam erst mit einem völlig anders aufgebauten Buch. Da eröffnete sich mir auf einmal die Grammatik und es wurden viele Probleme behoben, die ich bis dahin hatte.

Und meinem Nachhilfeschüler konnte ich ab da auch die englische Grammatik und dadurch auch die Sprache vermitteln. Er hatte die gleichen Probleme wie ich gehabt. Da ich selbst die Probleme für mich hatte lösen können, konnte ich es ihm nun genauso beibringen. Und es funktionierte! Mein Nachhilfeschüler konnte seine schriftliche Note merklich verbessern, wurde insgesamt sicherer im Umgang mit den Worten und traute sich dadurch auch, sich zu melden und Antworten mündlich zu geben, und konnte dadurch auch seine mündliche Note verbessern.

Der Erfolg sprach sich herum - bevor ich mich versah, hatte ich die Hälfte aller Schulkinder unseres Dorfes zur Englisch-Nachhilfe! Und jeder verbesserte sich! Ich konnte es selbst kaum glauben, aber der Erfolg sprach ja irgendwie für sich. Natürlich hatten meine Fähigkeiten dann auch irgendwo ihre Grenzen, ich will mich nicht als den besten Englisch-Lehrer hinstellen.

Aber ich denke, dass das offizielle Erwerben von Wissen mit Zertifikat nicht die einzige Möglichkeit ist, um Wissen zu erwerben. Und wir sollten nicht immer nur auf die Bescheinigungen gucken, um zu beurteilen, ob jemand etwas kann oder nicht. Ich habe schon eine Reihe von Leuten aus jedem Wissensgebiet getroffen, die zwar alle tolle Noten auf ihren Zeugnissen etc. hatten, aber die letztendlich doch Entscheidendes nicht wussten oder ihr Wissen nicht anwenden konnten. Und ich habe Leute getroffen, die sehr viel wussten und toll erklären konnten, aber das Thema nie studiert hatten oder an einer Lehrveranstaltung dazu teilgenommen hatten.

» SonjaB » Beiträge: 2698 » Talkpoints: 0,98 » Auszeichnung für 2000 Beiträge



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