Was empfindet ihr beim Hören von klassischer Musik?

vom 20.08.2022, 10:02 Uhr

Ich bin nicht sehr musikalisch und hatte bisher keinen Zugang zu klassischer Musik. Oft nervt sie mich, wenn ich sie höre. Ein früherer Freund war ein Klassikfan und hat mich immer damit aufgezogen, dass er zum Frühstück Bachs Kaffeekantate aufgelegt hat.

Nun war ich vor zwei Wochen auf einem Seminar, wo unter anderem auch das Thema Musik auf dem Wochenplan stand. Der Dozent, Rolf B., hat es geschafft, in eineinhalb Tagen, mein Interesse an klassischer Musik und Musik überhaupt zu wecken. Es war extrem inspirierend durch die Mischung aus Theorie und Beispielen von kurzen Musikteilen, die er jedes mal auch erklärt hat. Vielleicht kann man klassische Musik erst genießen, wenn man etwas darüber weiß.

Ich habe den Dozenten dann mal in der Pause gefragt, was er beim Hören von Musik empfindet, ob er zum Beispiel einen Film oder Bilder vor sich sieht. Es scheint bei ihm ein sehr tiefes Gefühlserlebnis auszulösen, manchmal mit Bildern, manchmal als reines Gefühl. Wenn ich Musik höre, dann schweifen meine Gedanken sehr schnell ab und ich kann mich gar nicht so sehr darin versenken.

Was empfindet ihr beim Hören von klassischer Musik? Ist es eher ein Hintergrundgeräusch, was euch vielleicht sogar nervt? Oder könnt ihr euch ganz darin versenken? Seht ihr beim Hören Bilder vor euch, eventuell Erinnerungen?

» blümchen » Beiträge: » Talkpoints: Gesperrt »



Ich wüsste nicht, warum man beim Hören klassischer Musik etwas anderes empfinden sollte als bei modernerer. Wenn man beispielsweise den Kanon in D von Johann Pachelbel nimmt, der gefühlt auf jeder Hochzeit in der Region und bei jeder Film- und Serienhochzeit gespielt wird, dann kennt man den doch schon in unzähligen modernen Varianten, wo sich Künstler kräftig an der Melodie von Sechzehnhundertschlagmichtot bedient haben.

Spontan würden mit jetzt Peter, Paul and Mary mit Puff, the magic Dragon, Streets of London von Ralph McTell, Aerosmith mit Cryin, I should be so lucky von Kylie Minogue, die Beatles mit Let it be, Lemon Tree von Fools Garden oder With or without you von U2 ein. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Und wenn man sich darauf einlässt, lösen alle diese Songs Stimmungen aus, die auch das Original enthält. Man kann das doch nicht trennen? Klassik ist auch nur Musik.

» cooper75 » Beiträge: 13330 » Talkpoints: 498,67 » Auszeichnung für 13000 Beiträge


Mir geht Musik in neun von zehn Fällen auf die Nerven. Ich verstehe auch nicht, wieso das Gefudel von 1600 bis 1900 als "klassische" und daher automatisch komplexe und "hochwertige" Musik gilt und alles danach mehr oder weniger als entweder Schmarrn oder derart kompliziert, dass es sich niemand mehr freiwillig anhört.

Wenn sich beispielsweise irgendein vollgefressener Barock-Potentat von einem Orchester unterhalten lassen wollte, während er dinierte oder seine Mätressen beschlief, war das genauso "Gedudel" wie wenn man heute zu Kuschelrock bumst oder beim Kartoffelnschälen Radio hört. Es gab nur noch keine Stereoanlagen. Und so Kram wie Wagner war sowieso nie fürs Volk gedacht, da bin ich als Arbeiterkind quasi genetisch schon außen vor.

Mir fehlen für Musik einfach die Enzyme. Wenn ich mich nett unterhalten oder gut essen will, möchte ich weder mit Wagner noch mit Liszt beschallt werden, genauso wenig wie mit Linkin Park. Und nur weil ein Stück "alt" ist, kann es mich genauso nerven wie etwas Modernes, das nur vier Akkorde umfasst.

Ich habe im Bemühen, mich zu "bilden", schon vielen Instrumentalstücken und auch "klassischem" Musiktheater eine Chance gegeben, und wenn nicht die absolut magische Grenze zwischen eingängig und komplex getroffen wurde (Mozart geht noch halbwegs), bin ich nach 10 Minuten genervt und will, dass es aufhört, egal ob jemand aufs Cembalo einklimpert, irgendein hoch dekorierter Tenor grölt oder sich 50 Streicher in die Riemen legen, als gäbe es kein Morgen.

» Gerbera » Beiträge: 11292 » Talkpoints: 42,29 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



Bisher habe ich ja mit Klassik auch nicht so viel anfangen können, habe aber eher angenommen, dass mir noch der Einstieg dazu fehlt. Ich hätte nie so abfällig darüber geredet wie die zwei Antworten bisher. Nach diesem Kurs habe ich eine Vorstellung davon bekommen, was diese Musik an tiefen Empfindungen auslösen kann. Ich werde mich auf jeden Fall weiter damit beschäftigen. Manchmal habe ich das Gefühl, das mir im Gehirn ein Teil fehlt, das mich das erleben lässt, so wie ein Farbenblinder nicht die Kunst von bestimmten Malern schätzen kann.

Ich glaube aber, dass es sich lohnt, sich auch theoretisch mit zum Beispiel der Wiener Klassik zu beschäftigen. Der Lustgewinn erscheint mir erstrebenswert. Ob ich das Ziel erreiche und mehr Klassik mit Genuss höre, weiß ich nicht. Aber die Vergleiche von Gerbera finde ich überheblich. Nur weil man selber mit etwas nichts anfangen kann, muss man es doch nicht schlecht machen.

» blümchen » Beiträge: » Talkpoints: Gesperrt »



Wieso überheblich? Klassik ist eben auch nur Musik. Und was ist anfällig daran, wenn man feststellt, dass ein sehr beliebtes klassisches Stück eben auch als Folk, Pop, Rock und so weiter funktioniert? Das schmälert nicht die Leistung des Komponisten von damals oder der von heute, sondern es zeigt nur, dass man Musik nicht in Schubladen stecken sollte.

Was unterscheidet denn bitte Wiener Klassik, also einen Musikstil einer bestimmten Zeit mit eindeutigen Merkmalen, in der Qualität von Rock ’n’ Roll, also einem weiteren Musikstil einer bestimmten Zeit mit eindeutigen Merkmalen? Beide sind geprägt von den Umbrüchen der jeweiligen Zeit und entwickelten neue Ideen bei der Komposition.

Und warum muss man bei Klassik anders empfinden als bei anderer Musik? Entweder ein Stück gefällt mir oder es tut das nicht. Dabei ist die Zeit oder der Hintergrund doch vollkommen egal. Es mag ja sein, dass ein Titel wichtige Themen unters Volk bringt. Aber ob das nun Rossini mit Tell oder U2 mit Bloody Sunday ist einerseits unerheblich, auf der anderen Seite muss man es doch nicht mögen, nur weil es wichtig war.

» cooper75 » Beiträge: 13330 » Talkpoints: 498,67 » Auszeichnung für 13000 Beiträge


cooper75 hat geschrieben:Entweder ein Stück gefällt mir oder es tut das nicht.

Genau diese Diskussion hatte ich auch mit dem Dozenten. Er hat den Unterschied gemacht zwischen "gefällt mir" und "qualitativ sehr gut". Er mag zum Beispiel auch eine bestimmte Popgruppe, weil sie Jugenderinnerungen an seine damalige Freundin auslöst, würde aber nicht behaupten, dass diese Musik qualitativ sehr hochwertig ist. Jedenfalls hat er bei mir ausgelöst, dass ich mich näher mit Musik beschäftige. Das hatte bisher noch niemand geschafft.

» blümchen » Beiträge: » Talkpoints: Gesperrt »


Aber muss einem etwas gefallen, nur weil es qualitativ hochwertig ist? Magst du ein Bild, nur weil es handwerklich 1Ä gemalt worden ist, und löst das Gefühle aus? Oder spricht dich irgendetwas anderes an, das doch im Inneren berührt? Die Qualität mag nicht schaden, aber sie ist eben nicht allein der ausschlaggebende Punkt.

Und nur weil etwas Klassik ist, ist es nicht automatisch hochwertig. Gerade die Wiener Klassik hat die Musik als Massenproduktion nach bestimmten Regeln und Abschnitten etabliert. Das macht Dieter Bohlen auch so... Und genau das merkt man manchem Stück auch an. Nur weil Mozart oder Bach dran steht, ist es nicht automatisch gut. Das waren die Popstars ihrer Epoche.

» cooper75 » Beiträge: 13330 » Talkpoints: 498,67 » Auszeichnung für 13000 Beiträge



Also bei mir ist es so, dass ich maximal ein Stück aus der Klassik am Klavier spielen kann und dann zu einer anderen Musikrichtung übergehe, weil ich sonst aggressiv werde. Daher spiele ich selbst eher wenige Stücke aus der Klassik.

Aber das Szenario habe ich auch beim Hören von klassischer Musik. Es gibt wenige Stücke, die mich beruhigen oder meine Konzentration anheben, wie es angeblich klassische Musik tun soll. Das funktioniert bei mir einfach nicht.

» Wibbeldribbel » Beiträge: 12546 » Talkpoints: 0,94 » Auszeichnung für 12000 Beiträge


Ich höre schon seit meiner Jugend sehr viel klassische Musik, und sie löst bei mir schon sehr viele Gefühle aus. Wobei ich die Gefühle nicht einheitlich beschreiben kann, da sie je nach Stück recht unterschiedlich ausfallen können. Eine Kantate von Bach klingt ja ganz anders als eine Sinfonie von Beethoven oder eine sinfonische Dichtung des späten 19. Jahrhunderts, und es werden je nach Stück ganz unterschiedliche Emotionen geweckt.

Generell kann ich sagen, dass klassische Musik mich in einen sehr angenehmen Zustand gelangen lässt. Sobald ein Orchester anfängt zu spielen, werde ich hellwach, aufmerksam und gleichzeitig innerlich ruhig, ohne schläfrig zu werden. Je nach Stück empfinde ich regelrechte Achterbahnen der Gefühle, und ich gehe mit der Musik innerlich stark mit. Klingt fast widersprüchlich, aber Gefühle sind nicht immer ganz logisch nachvollziehbar.

Komischerweise fällt es mir im Gegensatz dazu oft recht schwer, mich mit Unterhaltungsmusik zu beschäftigen. Vor allem Radiomusik mit aktuellen Hits kann ich nur kurze Zeit hören, dann werde ich nervös und im negativen Sinne unruhig. Wobei es auch sehr gute und tolle Unterhaltungsmusik gibt. Wichtig sind mir auf jeden Fall anspruchsvollere Klänge, Harmoniefolgen und komplexe formelle Strukturen. Sobald moderne und Popmusik ungewöhnliche Wege geht, gefällt sie mir auch oft gut.

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» lascar » Beiträge: 4412 » Talkpoints: 782,06 » Auszeichnung für 4000 Beiträge


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