Jedem sein Ansehen, seine Würde, sein Gesicht/Maske lassen

Jeder Mensch steht nicht gerne als Verlierer da. Hat man etwas falsch gemacht, werden oft die unmöglichsten Ausreden gesucht, um sein Unvermögen zu verdecken. Es ist eine Tatsache, dass jeder versucht, einen gemachten Fehler so wieder aus der Welt zu schaffen, dass möglichst keiner davon Kenntnis bekommt. Man will nicht, dass es andere merken, dass man Fehler macht, man will den Schein aufrecht erhalten.

Bei den Asiaten, hier besonders den Japanern, ist es ganz schlimm, das Gesicht zu verlieren. Hier geht es nicht nur darum, durch ein Vergehen oder einen gemachten Fehler das Gesicht nicht zu verlieren, sondern es geht auch darum, dass der Vorgesetzte sein Gesicht nicht verliert, denn das würde wiederum auf ihn zurückfallen. Hier ist es nicht so einfach zu verstehen, wie in Deutschland. Der Vorgesetzte wird seinem Mitarbeiter Hilfe anbieten, damit dieser sein Gesicht wahren kann, beziehungsweise sein Ansehen. Es ist überhaupt so, dass jeder versucht, sein eigenes Ansehen zu wahren und das des Anderen.

Wir machen uns nicht die Mühe, unsere eigenen Fähigkeiten zu verstecken und bescheidener aufzutreten. Das würde kein Asiate tun, weil er dann sein Gesicht verliert. Wenn ein Deutscher sich negativ in irgendeiner Weise über sein Heimatland äußert, passiert nichts. Ein Asiate würde dann sein Gesicht verlieren. Wobei man dieses Gesicht gleichsetzen muss mit „Maske“. Denn das Lächeln der Asiaten ist nicht ihr wahres Gesicht, sondern eine Maske, weil sie ihre wahren Gefühle nicht zeigen wollen. Jeder weiß, dass sein Gegenüber eine Maske trägt, so wie er selbst. Und jeder bemüht sich, dem Anderen seine Maske zu lassen. So kann man sagen, dass die Bemühungen dahin gehen, dem Anderen nicht sein Ansehen weg zu nehmen.

Ich glaube nicht, dass wir diese Erkenntnis auch in Deutschland für uns in Anspruch nehmen können. Welche Erfahrungen habt ihr damit gemacht, anderen nicht das Ansehen zu nehmen, also ihm die Möglichkeit zu geben, sein Gesicht zu wahren? Glaubt ihr, dass in dieser Beziehung jeder Rücksicht nimmt?

Im Berufsleben kann das durchaus von Vorteil sein, wenn Kollegen und Chefs eben zusammen stehen und nicht die Schuld aufeinander abwälzen. Zum Teamwork gehört eben auch dazu, dass man die Suppe gemeinsam auslöffelt. Aber ich finde, das sollte seine Grenzen haben und je nach Situation abgewogen werden. Ich kenn mich mit der asiatischen Mentalität nicht aus, aber für mich hat es dann schnell den Anschein von Verschleierung, Lügen und Unehrlichkeit.

Und diese Punkte finde ich im Familienleben besonders problematisch. Da wird dann eine Tochter abgelehnt, nur wegen dem, was die Nachbarn denken könnten oder Ehen aufrechterhalten, die für alle eine einzige Qual sind. Vor allem bröckelt diese Verhaltensweise doch auch, oder?! Die Jüngeren sehen das mittlerweile kritisch und hinterfragen es? Das sorgt für vermehrte Spannungen zwischen den Generationen.

Nach dem Tsunami wurde auch viel über dieses Anscheinwahren geredet. Mir taten die Menschen so leid, die selbst in dieser großen Not versuchen, nicht zu verzweifeln, weil es sich nicht schicken würde. Und währenddessen bekommen sie die Kamera von irgendeinem europäischen Fernsehteam ins Gesicht gehalten und der Kommentator erwähnt noch, wie bewundernswert es ist, dass die Japaner immer noch Haltung bewahren. Die ganze Situation war einfach absurd.

Natürlich gehen sie durch diese Angewohnheit auch anders mit der Situation um. Leider verhindert dieses Bemühen um das Ansehen, dass man um Hilfe ersucht und zugibt, dass es einem schlecht geht, dass man trauert. Gerade psychologische Hilfe ist regelrecht verpönt.

Ich finde die Deutschen in diesem Punkt ehrlicher. Und ich denke, dass dies der gesündere Weg ist. Wenn jemand Mist baut, dann soll er dazu stehen, aber seine Mitmenschen müssen dann auch sehen, dass er Mist gebaut hat und nicht der Chef oder der Vater. Und wenn er sich ändert oder bereut oder was auch immer der Situation angemessen ist, dann ist auch wieder gut.

Aber wie gesagt, kenne ich mich mit der asiatischen Mentalität nicht aus. Das sind hauptsächlich die Eindrücke, die ich nach dem Tsunami aus dem Fernsehen aufgenommen habe. Ich lasse mich gerne von Jemandem mit persönlicher Erfahrung eines besseren belehren. Das würde mich sehr interessieren. Skurril fand ich auch die Szenen, wo sich ein Tepco-Mitarbeiter bei einem Landwirt aus Fukushima entschuldigt hat. Sie haben einfach beide gesagt, dass es ihnen leid tut und sie haben sich verbeugt. Hilft das wirklich weiter?

Ich kann mich zur japanischen Kultur nicht qualifiziert äußern, da ich keinen einzigen Japaner persönlich kenne, den ich fragen könnte. Aus Reportagen auf 3Sat und arte kann ich jedoch auch schließen, dass in manchen Kulturen nicht so wie bei uns das Individuum und seine Befindlichkeiten im Vordergrund steht, sondern eher das Funktionieren des Kollektivs. Das muss nicht zwangsläufig besser oder schlechter sein, ich denke vielmehr, dass alle kulturellen Ausprägungen des menschlichen Zusammenlebens ihren Nutzen, aber eben auch Nachteile haben.

Mir persönlich würde etwas mehr höfliche Distanz im Alltag durchaus zusagen, aber der japanische Arbeitsethos (zumindest so, wie ich ihn aus dem seriösen Fernsehen kenne) würde mich wahrscheinlich umbringen. Und was das "Gesicht wahren" angeht, finde ich durchaus, dass es Alltagssituationen erleichtert, wenn man nicht immer gleich persönlich wird oder jede harsche Wahrheit heraus posaunt, sondern sich auch mal diskret und dezent gibt.

Beispielsweise behaupte ich in der Arbeit immer kühn, dass sicher ein "Fehler im System" verantwortlich ist, oder dass ein Vorgang "wirklich missverständlich dargestellt" wird, obwohl jemand einfach nur ganz objektiv zu doof ist, sich sein Passwort zu merken oder generell eine Bedienungsanleitung zu lesen. Aber auf diese Art muss sich niemand peinlich berührt vorkommen, es ist niemand "schuld" daran, dass mal wieder alles ewig dauert, und wenn die Leute emotional schön gedämpft gehalten werden, können sie sich auch Erklärungen besser merken und stellen sich das nächste Mal nicht mehr so blöd an.

Mir selber ist es als Fragesteller oder Kunde auch lieber, wenn ich mir nicht blöd vorkommen muss, weil ich beispielsweise beim Bäcker das Power-Röggli wiederholt mit dem Fitness-Nero-Rosso verwechselt habe, sondern wenn mir ein eleganter Ausweg mit den Worten: "Hachja, die Schilder sind aber auch klein beschriftet!" geboten wird. Es sind zwar nur Nuancen, aber auf diese Art zeichnet sich für mich ab, ob jemand geschickt im Umgang mit Fremden ist oder eher ein Trampel.

Was in Asien an den Tag gelegt wird, wünsche ich mir ehrlich gesagt auch hier. Hier geht es nur darum, dass man sich selbst immer über alle anderen stellt und dabei ist jedes Mittel recht. Man drängelt sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und mit dem Finger wird auf jeden Fehler hingewiesen und noch lange darauf herum getrampelt und es immer wieder zum Thema gemacht selbst wenn es mit dem aktuellen nichts zu tun hat.

Etwas mehr Bescheidenheit und das nicht dauerhaft im Mittelpunkt stehen wollen und als der beste gelten, würde hier auch einiges verändern. Diesen Umbruch wird man hier aber nicht mehr erleben, dazu ist hier jeder zu sehr auf sich selbst fixiert und denkt nicht an die restlichen Leute die man dafür zu seinem Werkzeug macht um voran zu kommen.

Genauso das Thema Selbstmitleid. Hier wird sich für jeden Dreck selbst bemitleidet damit man von anderen noch Aufmerksamkeit bekommt. Für einen Asiaten ist das undenkbar sich darin zu wälzen und auf diese Weise auf sich Aufmerksam zu machen anstatt sich dem Problem anzunehmen und dazu zu stehen. Auch das finde ich eine komplett widerliche Geste, bei denen die Asiaten für mich einfach sympathischer sind durch ihre Haltung und ihre Art.