Seltsame Tradition am Grab von Oscar Wilde

Der bekannte Schriftsteller Oscar Wilde liegt heute, nach einer Umbettung, auf dem Friedhof Cimitiere du Pere Lachaise in Paris begraben. Dort hat er ein Ehrengrab mit einer großen Statue darauf, die in leicht abstrahierter Form einen männlichen Engel zeigt.

Und genau dieses Grab ist als totales Touristenziel und als Pilgerstätte von Fans zum Teil auch schon arg beschädigt worden. So fehlt der Statue seit einigen Jahren ihr Penis (man dachte schon über eine Prothese nach) und der Stein soll aufgrund von Fan-Graffiti auch immer weiter beschädigt werden. Es wurden zwischendurch schon einmal Schilder angebracht, die die Fans aufforderten, den Grabstein nicht anzufassen, weil das ihn nur beschädigen würde, aber das kümmert wohl niemanden so recht. Pere Lachaise hat mit so einigen Prominenten-Gräbern richtige Touristen-Probleme. Das Grab von Oscar Wilde macht da nur einen kleinen Teil von aus.

Auch schädlich für das Gestein ist eine Tradition, die sich für Oscar Wildes Grab eingebürgert hat. Dieses ist nämlich nicht nur mit Fan-Graffiti in Form von Sprüchen, Signaturen und Herzchen übersäht, sondern auch von Lippenstiftabdrücken. Wirklich mehrere hundert Frauen scheinen diesen Grabstein mit ihren mit Lippenstift bemalten Lippen geküsst zu haben, und es geschieht immer wieder. Der ganze Grabstein ist innerhalb der erreichbaren Höhe schon so voll mit den Abdrücken, dass da kaum mehr Platz für einen neuen wäre. Ich war selbst schon einige Male an diesem Grab und habe da dann auch immer wieder Leute gesehen, Frauen, die diesen Grabstein küssten und zwar auch nur, um einen sichtbaren Abdruck zu hinterlassen. Sie haben sich zum Teil extra vor dem Kuss deswegen die Lippen neu geschminkt.

Weiß jemand von euch, woher diese Tradition genau kommt? Etwas seltsam finde ich es ja schon, dass auf dem Grab eines bekennend homosexuellen Mannes die Küsse weiblicher Verehrerinnen so zahlreich zu finden sind. Oscar Wilde hatte einfach kein Interesse an Frauen, keine Frauengeschichtchen, keine Liebhaberinnen und er hat auch nie mit Frauen kokettiert.

So viele Kuss-Abdrücke würde ich eher bei einem heterosexuellen Frauenhelden erwarten, nicht bei Oscar Wilde. Dieser war ja sehr bekennend schwul und hatte damals im viktorianischen England auch juristische Probleme deswegen, unter denen er sehr litt. In seinem Grab liegt er übrigens auch nicht alleine, sondern auch die Asche eines seiner früheren natürlich männlichen Liebhaber wurde dort mit bestattet. Wieso findet man also so viele Kuss-Abdrücke ausgerechnet von Frauen auf seinem Grab, und kaum männliche Ehrbezeugungen?

Die Frage ist, ob das Ehrbezeugungen sind? Den Fans dürfte ja eigentlich klar sein, dass er schwul war und sich durch solche Kussflecke eher geärgert als geschmeichelt gefühlt hätte. Und vielleicht ist ja genau das die Absicht? So eine Art kleine und subtile Rache für seine Sprüche, die auch nicht jeder Frau gefallen?

Aber einen Grabstein zu zerstören, das finde ich kulturlos. Egal, ob man den Schriftsteller darunter mag oder nicht. Das Kunstwerk des Bildhauers sollte man eigentlich auch respektieren. Und mal ganz ehrlich: Was was will man eigentlich mit dem abgebrochenen Penis eines Engels vom Grab eines Schriftstellers? Das ist schon eine wunderliche Trophäe.